Wandertag am Goethe – ganze Klasse landet im Rollstuhl!
Was wie eine große Skandal-Überschrift der Bildzeitung klingt, ist die reine Wahrheit - aber in keiner Weise Grund zur Beunruhigung. Denn die Schüler der 7c (2009/10) landeten schon am Anfang des Wandertages im Juli 2010 im Rollstuhl, und zwar nicht aus gesundheitlichen Gründen, sondern vielmehr um Spaß zu haben und neue Erfahrungen zu machen.
Schon im Vorfeld besuchten mit Theresa und Maria zwei Vertreterinnen des Vereins Phönix – Beratung und Hilfe für behinderte Menschen die Klasse. Eine davon ist am Goethe-Gymnasium keine Unbekannte: Maria hat 2001 selber hier Abitur gemacht, und im Jahr 2008 stand sie zwei zehnten Klassen als Gesprächspartnerin zum Thema „Leben mit Behinderung“ zur Verfügung. Bei unserem Vorbereitungstreffen erzählten die beiden spastisch gelähmten Studentinnen von ihrem Leben und beantworteten die Fragen, die immer freimütiger aus der Klasse gestellt wurden. Der offene und unvoreingenommene Austausch war mit Sicherheit ein wertvoller Schritt zur Vorbereitung unseres Wandertages und machte bereits erlebbar, wie positiv und lebensfroh unsere Betreuerinnen die Sache bei allen Schwierigkeiten angehen. Fremdheit schürt Vorurteile, und Mitleid kann auch eine Form von Ausgrenzung sein. Da ist es schon besser, wenn – wie durch unser Kennenlernen – Respekt und Hochachtung, Entspanntheit und Sympathie entstehen.
Für den Wandertag selber besorgte der Phönix e. V. Leih-Rollstühle. Ausgestattet mit einem Stadtplan, einer Einführung ins Rollstuhlfahren und einem Zettel mit zu erledigenden Aufgaben, machten sich die Siebtklässler in Teams mit je einem Fußgänger und einem Rollstuhlfahrer auf den Weg. |
Wie geht das jetzt mit dem Busfahren? Was mache ich, wenn ich den Laden nicht betreten kann, weil das nur über Stufen geht? Wie soll ich jetzt etwas aus der Tiefkühltruhe im Supermarkt rausholen? Und wie reagieren die Leute, wenn man um Hilfe bittet? Spannende Aufgaben... Nach einem unbeobachteten Fahrerwechsel konnte auch der Teamkollege seine Erfahrungen machen.
Am Ende gab es die große Abschlussbesprechung im W1, dem ehemaligen Jugendzentrum Weingasse. Zunächst wurden drei Behälter aufgestellt, in die die Schüler ihre notierten Erfahrungen einwarfen: ein Koffer für das, was man gern mitnimmt, eine kleine Mülltonne für das, was man lieber hier lässt und ein Medizinschränkchen für das, was verbessert werden müsste.
Was kam heraus? Zunächst hat es allen Spaß gemacht, mit dem Rollstuhl herumzugurken – und auch das ist ja eine wichtige Erfahrung, die Berührungsängste abbaut. Teilhabe von Menschen mit Behinderung heißt nicht, dass alle betroffen oder traurig schauen und sich mitleidig um einen Rollstuhlfahrer kümmern. Man kann ruhig miteinander lachen, etwas ausprobieren, fragen, wenn man unsicher ist und ganz normal miteinander umgehen.
Nach unserer Stadtrallye haben die Jungs bemerkt, wie sich ihr Blick verändert hat: Man sieht plötzlich viel mehr Rollstuhlfahrer (weil sie einem mehr auffallen), man merkt, was alles dazu beiträgt, dass Menschen im Rollstuhl behindert werden: Das zur Straßenmitte hin abfallende Kopfsteinpflaster in der Altstadt rüttelt einen ganz schön durch und sorgt für Muskelkater in den Armen. Ein Busfahrer war nicht bereit, beim Einsteigen zu helfen. Nicht abgesenkte Randsteine stellen sich als fast unüberwindliche Hindernisse dar. An vielen Stellen in der Stadt, in Geschäften und auf Gehwegen fehlen Rampen. Aufzüge, auf die man z. B. in den Kaufhäusern angewiesen ist, sind schlecht ausgeschildert. Unangenehm war es zu merken, dass vor allem Jugendliche einen oft blöd anschauten, auslachten, blöde Bemerkungen machten und wenig hilfsbereit waren. Eine Gruppe berichtete, dass jemand den Regenschirm zwischen sich und den Rollstuhl hielt, um den Rollifahrer nicht anschauen zu müssen. Kann das sein? Oder haben sich unsere Jungs das nur eingebildet und etwas auf sich bezogen, was gar nicht so gemeint war? Schon diese Möglichkeit zeigt, wie viel Selbstbewusstsein das Leben als Rollifahrer braucht...
Andere haben aber auch erzählt, dass sie sogar auffällig oft nett gegrüßt und angelächelt wurden, dass Leute ihnen von sich aus Hilfe angeboten haben. Wer den Perspektivwechsel – wie die Schüler der letztjährigen 7c – schon einmal vollzogen hat, wird sich leichter tun, auf Menschen mit Behinderung zuzugehen und zu merken, dass uns viel mehr verbindet als uns trennt.
Barrieren abbauen – das ist der Weg und das Ziel. Unser Wandertag war ein Schritt dazu.